Grenzsteinrücker
Eine Erzählung von Friedel Uhl
Man spricht immer wieder einmal von der guten alten Zeit. Vieles daran war, wie wir heute wissen gar nicht so gut. Die Menschen mußten allgemein sehr viel mehr und härter arbeiten als in unserer Zeit. In der Landwirtschaft mit der ganzen Familie von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang und in den Fabriken bis zu 12 Stunden täglich um ihr Brot zu verdienen, um ihre häufig großen Familien zu ernähren. Nicht wenige kämpften um das nackte Leben.
Was war nun das Gute an dieser Zeit?
Die Menschen waren und mußten mit dem zufrieden sein, was sie hatten, stellten allerdings auch weniger Ansprüche als heute. Man wußte es einfach nicht besser, Hektik und Streß waren Begriffe, die man noch nicht kannte, dementsprechend kannte man auch die sogenannten Wohlstandskrankheiten noch nicht.
Zu seinen Mitmenschen hatte man ein ganz anderes Verhältnis als heute, da man gerade auf den Dörfern auf die Hilfe Anderer angewiesen war. Ein guter hilfsbereiter Nachbar war mehr Wert, als ein naher Verwandter, der weit entfernt wohnte.
Nachrichten und Neuigkeiten wurden mündlich übermittelt. Die Medien gab es noch nicht. Zeitungen kamen erst zu Beginn des vorigen Jahrhunderts bei einigen wenigen Bürgern in Mode.
Für die Bevölkerung wichtige Mitteilungen, wurden je nach Bedarf ein oder mehrmals in der Woche durch den Ortsdiener bekannt gemacht, der solange mit seiner Glocke schellte, bis aus jedem Haus jemand aus dem Fenster sah, oder vor dem Hof stand, um die Neuigkeit entgegen zu nehmen.
Nachrichtenüberbringer, waren die fahrenden Händler. Regelmäßig am Freitag kam der “Maddemann” aus dem Hüttenberger Raum mit frischem Quark und Käse.
Der Linsemann kam aus der Wetterau und übernachtete mit seinem Pferdegespann in einem der beiden Gaststätten, Götze Hannes oder Prinz.
Aus dem Vogelsberg kamen Händler mit Holzwaren wie, Rechen, Stiele, Holzlöffel, Holzteller, Wäscheklammern usw., die mit ihren Kieben durch das Dorf gingen und riefen: Hulz kuff, (kauft Holz) und so ihre Waren feilboten. Auch diese übernachteten in den Wirtshäusern.
Die Anwesenheit der Händler sprach sich natürlich schnell herum und die Männer der Dörfer saßen dann am Abend in den Gaststuben und hörten den Überlandfahrern, die durchweg gut erzählen konnten, zu.
Eine weitere Nachrichtenquelle waren die Handwerksburschen, die oft von weit her kamen, von Ort zu Ort zogen und die je nach dem wieviel Arbeit gerade ein Handwerksmeister hatte, Tage, Wochen oder auch Monate blieben.
Für die Übermittlung der örtlichen Neuigkeiten, sorgten die abendlichen Zusammenkünfte in den Familien, mit der Nachbarschaft und in den Spinnstuben. Gerade in den Spinnstuben wurde auch noch viel gesungen.
Ich erinnere mich als Bub noch gut, daß die Mutter und die Oma an Winterabenden mit dem Strickzeug oder auch mit dem Spinnrad außer Haus gingen. Man saß dann bei heruntergehängten Lampen im Kreis zusammen und unterhielt sich bei der Arbeit über das Dorfgeschehen, Familienereignisse usw. Selbstverständlich wurde auch damals schon geklatscht. Aber man konnte sich noch selbst unterhalten, was wir heute immer weniger wollen oder können. Es ist eben einfacher und bequemer sich durch Knopfdruck von den Medien unterhalten zu lassen.
Weitere schöne unterhaltsame Abende, waren die damals noch traditionellen Metzelsuppen. Hier wurden unter anderem Begebenheiten und Anekdoten aus vergangenen Zeiten erzählt. Wir Kinder saßen dann in gewissem Abstand dabei und spitzten die Ohren und versuchten durch allerlei Tricks das zu Bett gehen zu verzögern, um möglichst viel von dem erzählten mit zu bekommen. Das es mit der Wahrheit hier ab und zu nicht so genau genommen wurde, ist verständlich, wurden doch manche Geschichten schon über sehr lange Zeiträume erzählt und weitergegeben.
Einer dieser Geschichten habe ich mir heute noch gut behalten. Sie hat mich als Bub so beschäftigt, daß sie mir mein Vater immer wieder erzählen mußte.
Man saß wieder einmal im Wirtshaus in geselliger Runde zusammen, unter anderem auch ein Handwerksbursche, und erzählte. Bis einer aus dieser Runde erwähnte, daß es auf dem Weitfeld, zwischen Feld bei Laufdorf und Oberndorf, nicht mit rechten Dingen zu gehen solle. Um Mitternacht würde man immer wieder einmal ein Rufen hören. Der unerschrockene Handwerksbursche lachte darüber und ermunterte die Anwesenden der Sache sofort auf den Grund zu gehen. Einige mutige Burschen erklärten sich bereit mitzugehen und so maschierte man in Richtung Weitfeld. Dort angekommen hörte man tatsächlich nach einiger Zeit ein Rufen mit den Worten: “Wu soll ich en hiedou?” (Wo soll ich ihn tun?). Der Handwerksbursche hielt unerschrocken die Hand vor den Mund und rief laut zurück: “Wu Du en hergenomme host!” (Wo Du ihn hergenommen hast). Das Rufen verstummte Augenblicklich und wurde nie mehr gehört.
Hintergrund dieser Geschichte, war ein Grenzsteinrücker, ein Mitbürger, der bei Nacht und Nebel einen Grenzstein versetzt hatte, um seinen Besitz zu vergrößern. Aber seine Seele fand keine Ruhe und so spuckte er Nachts auf dem Weitfeld.
Daß es solche Grenzsteinrücker gegeben hat, ist durch alte Prozessakten bewiesen, aber über Spuckgeschichten lächeln wir heute Gott sei Dank.